Dieser Artikel versteht sich als eine Art Gegenpart zu den Erwartungen an digitale Lehrmittel. Die meisten Einwände betreffen die entstehende Passivität der Lernenden, einen Rückgang ihrer Schulleistung bei unausgewogener Nutzung der Medien sowie schlecht adaptierte Lerninhalte, die zudem unter dem Primat technologischer Machbarkeit und kommerzieller Ausrichtung stehen.
Passivität
Für Kinder zwischen dem siebten und zwölften Lebensjahr ist es gemäss des symbolischen Interaktionismus besonders wichtig, sich selbst zu entdecken, reale Erfahrungen mit der Umwelt und anderen Kindern zu machen und sich dabei sozial zu entwickeln. Die zunehmende Digitalisierung stehe dem entgegen und verhindere diesen wichtigen Austausch zwischen echten Menschen1. Auch Schorb und Eggert sehen «gerade die Frage der sozialen Einbettung des Lernens [als]ein nicht gelöstes Desiderat des E-Learnings»2.
Prof. Ernst Schubert berichtet, dass «das Kind von dem Computer nicht mehr loszureißen war, so faszinierten es die simulierten Vorgänge. […] „Was es in der Realität noch nicht leisten konnte, war im Computer möglich, ohne sich die Hände schmutzig zu machen“»3. Genau diese Passivität widerstrebt dem Psychologen Thomas Fischer. Kinder sollten ihre Erfahrungen aktiv in der Umwelt machen und dabei Sinneseindrücke sammeln können4.
Aktuelle Konzepte wie Flipped Classroom oder Blended Learning steuern den genannten Problemen entgegen, indem sie digitale Lehrmittel als Ergänzung, aber nicht als Ersatz für den herkömmlichen Unterricht sehen. «Die jeweiligen Anteile von eLearning und traditionellem Lernen können auf diese Weise zeitlich, inhaltlich und mengenmäßig variiert werden. Präsenzlernen und eLearning sind damit nicht mehr konkurrierende Strategien, sondern Teile eines ergänzenden Lernarrangements»5. Diese Formen werden in der Literatur jedoch meist erst für höhere Schulstufen bzw. im universitären Bereich genannt.
Leistungsrückgang
Im Hinblick auf den förderlichen Aspekt von digitalen Lehrmitteln liegen verschiedene Erkenntnisse und Studien zur Mediennutzung vor. Diese beziehen sich überwiegend auf den Deutschunterricht, denn «verglichen mit traditionellen Medien, spielen digitale Medien, zum Beispiel über Programme, im naturwissenschaftlichen Unterricht der Grundschule […] nur eine untergeordnete Rolle»6.
Gemäss Lorenz und Gerick «konnte für die schulische Computernutzung generell, sowie die Suche nach Informationen, hinsichtlich der Leseleistung eine U-Verteilung festgestellt werden: Schülerinnen und Schüler, die (fast) nie oder (fast) täglich Computer nutzen, weisen eine bessere Leseleistung auf als Kinder, die mittelmäßige bis häufige Nutzer sind»7. Auch Welling stellt fest, dass «die Intensivierung der schulischen Mediennutzung über einen bestimmten Punkt hinaus Kompetenzzuwächse offenbar ins Gegenteil verkehrt»8.
Aufenager belegt dies mit empirischen Studien, die einerseits zeigen, dass pädagogische Fernsehsendungen den Wortschatz von Kindern erweitern können, andererseits aber auch darlegen, dass eine extensive Mediennutzung im Spracherwerbsalter die Sprachentwicklung beeinträchtigt9.
Technik- statt Zielgruppenorientierung
Ein weiterer sehr häufig auftauchender Kritikpunkt an digitalen Lernanwendungen ist die Tatsache, dass sie oftmals mehr als Showcase für das technisch Machbare stehen und nicht für einen didaktischen Mehrgewinn für die Schülerinnen und Schülern.
«Das Prinzip der Interdependenz, […] bedeutet, dass von verschiedenen Faktoren ausgehend geplant und die Stimmigkeit das Gesamtkonzept immer wieder geprüft werden muss und nicht ein einzelner Faktor Ausgangspunkt der gesamten taktischen Planung sein kann. Bei der Gestaltung von E-Learning-Angeboten besteht die Gefahr, dass ausgehend von attraktiven technischen Möglichkeiten Angebote geplant werden, die die Bedürfnisse der Zielgruppe nicht treffen, […] oder letztlich beliebig werdende pädagogische Zielsetzungen bedienen und kein konkretes bestehendes ‚Bildungsproblem’ lösen»10.
So kritisieren Schorb und Eggert 2013: 9 diesbezüglich, dass «die Lernplattformen sich bislang weniger an den Interessen ihrer Nutzenden ausrichten als an den technischen Möglichkeiten, vorgestaltet portioniert Wissen zu verbreiten»11. Einen Grund hierfür sehen Lembke und Leipner in der Tatsache, dass es vor allem IT-Unternehmen sind, die auf den Markt der E-Learning-Produkte drängen. Dieser Zukunftsmarkt stellt für sie neue Perspektiven dar ihre Produkte in der Gesellschaft zu positionieren, unabhängig des Mehrwerts für die Zielgruppe. Es geht nicht um moderne Didaktik oder darum, inwiefern neue technische Möglichkeiten das Lernen aktiv unterstützen. Stattdessen wird nur geschaut, wo eine neu entwickelte Technologie untergebracht werden kann. Orientierung an der Technik, anstatt am Lernenden12.
Problematisch in diesem Zusammenhang ist ebenfalls, dass viele Lernapps die von IT-Unternehmen digital über Websites oder App-Stores vertrieben werden, aus den USA oder anderen (englischsprachigen) Ländern mit anderen Bildungssystemen stammen. Nach Maurer sind diese «schlecht übersetzt und beinhalten oft falsches Deutsch und viele Rechtschreibfehler. Mathematische Apps nutzen häufig andere Zeichen (z. B. „x“ als Malzeichen) oder vermitteln andere Rechenwege»13.
Dabei wäre gerade für klassische Lehrbuchverlage, die sich konkret der Bildung verschrieben haben, der digitale Markt lukrativ. Aufgrund der zunehmenden Entwicklung zum Digitalen und der damit einhergehenden steigenden Nachfrage in multimediale Lehrmittel, sind die Verlage in der Pflicht, ihr Portfolio den neuen Gegebenheiten anzupassen. Dies bedeutet eine auf die Zielgruppe zugeschnittene und mediengerecht aufbereitete Aufbereitung des Lehrmaterials14.
Anstatt des technologischen Blicks der IT-Konzerne müssen die Verlage den Blick auf bildungsfördernder Methodik und Didaktik richten. Der Mehraufwand bei der Portierung analoger Inhalte in digital sinnvoll aufbereitete Derivate bietet den Verlagen durchweg Vorteile.
«Für Lehrmittelverlage sind […] interaktive Schulbücher insofern bereits heute interessant, als sie den Verlagen erstmals automatisiert Daten zur Nutzung von Schulbücher liefern. Allein durch die Nutzung der Geräte generieren die Lernenden entsprechende Daten: wann hat sich jemand wie lange mit welchen Inhalten beschäftigt?»15.
Ohne aufwändige Marktanalyse gäbe es umfängliche Statistiken, die zur Weiterentwicklung eigener Produkte genutzt werden können.
Technische Grenzen
Trotz der intensiven Orientierung an dem neuesten Stand der Technik, ist diese jedoch noch nicht in der Lage, die Erwartungen im gewünschten Masse zu erfüllen. Zwar postulieren Dräger und Müller-Eiselt, dass «Computer zunehmend in der Lage sind, auch komplexere Aufgaben zu bewerten»16. Damit sollen sie die Lehrperson entlasten und für mehr Individualisierung und differenzierte Förderung der Schülerinnen und Schüler sorgen. Dieser Vorteil von E-Learning-Umgebungen wurde im vorangegangenen Kapitel ausführlich vorgestellt.
Lembke und Leipner stellen jedoch fest, dass Intelligente Tutorielle Systeme (ITS), eine Form adaptiver Lernumgebungen, sich bislang nicht durchsetzen konnten:
Kommentare
Direkt zur Kommentar-Eingabe